Musik aus „der Dose“

Süß die Lieder doch klingen… im Wohnbereichsflur

„Das klingt furchtbar! So unecht!“, ärgerte sich Frau S. stets, wenn sie mich mit dem Keyboard auf dem Servier-Wagen sah. Sie mochte diese „Musik aus der Dose“ einfach nicht, schätzte die gute „alte Gitarre“ von Herrn. H., der ja einmal im Monat zum gemeinsamen Singen kam, viel mehr. Wir Betreuer hatten dafür stets einiges an Sitzplatz-Vorbereitungen zu erschaffen, was zur Vorweihnachtszeit dann bedeutete, am besten noch anzubauen. Diese besinnlichen Weihnachts-Lieder sind eben auch „Musik-Muffeln“ geläufig und kaum einer kann sich deren Zauber entziehen.

Somit wurden die wöchentlichen Ankündigungen im Dezember immer sehr aufmerksam studiert, wann denn Herr H. zum „Weihnachtssingen“ kommt. Viele Bewohner mochten aber auch die regelmäßigen Musikrunden, die ich mit Keyboard und einigen wenigen „CD-Liedern“ gestaltete. So ein Tasteninstrument erzeugte doch bei den meisten ein aufmerksames Interesse: oft habe ich absichtlich „falsch“ gespielt, um dann in mich hineinzulächeln, wenn es mit einiger Empörung in der Stimme hieß „Jetzt hast du aber verkehrt gespielt!“. Toll, wie sie aufgepasst haben… Ein Keyboard kommt einem Klavier ja schon durch die Tasten sehr nahe. Aber die Variationen, die man mit den verschiedenen Klängen erzeugen kann, haben mich trotz jahrelangem Spielen immer wieder fasziniert. Und es animierte den einen oder anderen, auch mal in die Tasten „zu hauen“ – was dabei oft zum Vorschein kam, war erstaunlich und wunderbar.

„Stille Nacht“, mit Panflöte und leisen Streichern als Hintergrund liess zum Beispiel wirklich Gänsehaut aufkommen. Spätestens dann wurde es sehr still und nahezu alle hörten bedächtig zu. Wenn andere Lieder zum Mitsingen animierten und oft auch falsche Töne dazu gesungen wurden – bei dieser Intonierung wurde es besinnlich und andächtig. Oft bekam ich kleine, bescheidene Tränchen in so manchem Auge zu sehen, was mich immer wieder berührte. Dankbare Worte, „was waren das für schöne Lieder“ oder „Hach Mädel, das hat mich wieder an früher erinnert“ machten mir immer wieder bewusst, mit wie wenig man viel Schönes erzeugen kann.

Der Heilge-Abend-Tag wurde immer zu einer gewissen Herausforderung: Holen wir alle Bewohner in die Speiseräume? Was ist mit denen, die nicht aus ihrem Zimmer oder ihrem Bett herauskönnen? Wieviele können wir eigentlich so platzieren, damit sich niemand eingeengt fühlt? Hin- und Herüberlegen brachte oft leise Verzweiflung zum Vorschein, wenn wir merkten, dass es schwierig bzw. unmöglich wurde. Da hatte ich die Eingebung, mein Keyboard auf dem Transportwagen durch die Wohnbereichsflure zu fahren und immer da, wo eine Steckdose vorhanden war, anzuhalten und los zu spielen. Da wir unsere Bewohner und deren Befindlichkeiten ja kannten, habe ich natürlich mein Repertoire darauf abgestimmt, wo ich gerade war. Meine Kollegin, mit der ich diese „Runden“ am Heilig-Abend-Tag immer machte, ging dann von Zimmer zu Zimmer, sagte „Hallo“, fragte wie es gehe und ob sie die Tür aufmachen soll, denn „draußen ist Weihnachtsmusik“.

Nun, wir kamen auch in den Flur, in dem Frau S. ihre Zimmertür hatte. Da wir ja ihre Abneigung gegen mich MIT dem Keyboard alle kannten, liess ich mich an der weiter entfernten Steckdose nieder und begann, erst leise, dann nach und nach lauter, bekannte und beliebte Weihnachtslieder zu spielen. So manche Türe wurde auch oft von den Bewohnern selbst geöffnet, manche hatten schon gewartet und setzten sich dann an die Tür oder kamen direkt zu uns. Zu Frau S. ging meine Kollegin hinein, es dauert einige Minuten und – beide kamen wieder heraus. Frau S. lächelte. Meine Kollegin auch. Ich musste aufpassen, dass ich mich in diesem Moment nicht verspielte. Denn darauf, auf das Lächeln, war ich nun überhaupt nicht vorbereitet gewesen.

„Leise rieselt der Schnee“  mit Panflöte und leisen Streichern – auch so ein Seufzer-Zuhörlied. Sie wirkte total entspannt, setzte sich auf die Sitzfläche ihres Rollators und machte genüsslich die Augen zu. Meine Kollegin zwinkerte mir lächelnd zu und ging wortlos weiter. Auch die weiteren Lieder hörte Frau S. gemeinsamen mit den anderen Bewohnern zu, als ich dann ankündigte, das ich noch ein Wunschlied spiele und dann weiter „ziehe“, fragte Frau S., ob ich auch „Süßer die Glocken“ könne. Ich suchte die angenehmste Tonmischung dafür heraus und spielte das Lied.

Sie wirkte sehr angetan. Als ich, nach einem freundlichen Applaus der Bewohner, meine Technik abbaute, kam sie zu mir und meinte „Mädelchen, ich hab dir unterschätzt! Das klingt ja doch janz nett, was de da so rumklimperst. Da haste mich aber die janze Zeit an de Nase rumjeführt! Warum haste denn nie was jesacht, wenn ich jemeckert hab?“ Da musste ich grinsen und sagte „Ach Frau S., so ne Dose hat schon einige Nachteile. Eine Gitarre braucht keinen Strom und ist viel einfacher herumzutragen. Ein echtes Klavier könnte ich allerdings nicht mit hierherbringen“ und da lachte sie herzlich und meinte „Na jut, Kleene, des haste janz toll jemacht. Vielleicht kannste ja mal mit Herrn H. zusammen spielen… Jedenfalls is heute Heilig Abend und ich kann nachher mit meinen Enkeln schön singen, weil de mich drauf einjestellt hast. Danke, Kleene!“