Meine Mutti meint heute noch, ich sei ein „Mitternachtskind“, also direkt um Null Uhr geboren. Ich hatte es offenbar gar nicht eilig, diese warme, geschützte Kuhle zu verlassen. Somit wurde „mechanisch“ nachgeholfen und meine Mum einige Zeit narkotisiert. War damals so.
Sie besteht darauf, dass sie sich nach ihrem „Wieder erwachen“ aussuchen sollte, welcher Tag (der „alte“ oder der „neue“?) als Geburtsdatums-Tag eingetragen werden sollte.
Einen Großteil der Kindheit bis zu meinem 9. Geburtstag verbrachte ich in einem Örtchen nahe einer DDR-Großstadt. Ein Randort sozusagen, verbunden mit einer tollen Straßenbahnlinie in die Weltstadt ;).
Die ich schon als Erstklässlerin fast in- und auswendig kannte.
An die Vor-Kindergartenzeit kann ich mich nicht mehr so wirklich erinnern.
Aber an die Kindergartenzeit etwas besser.
Ich hatte tolle (???) hellblonde Löckchen. Ganz viele kleine.
Und bekam oft so eine fürchterliche Mega-Schleife darauf gebunden.
„Wenn es dunkel wird, seid ihr zu Hause!“
Wir lernten schnell, wann es BEGANN, dunkel zu werden und wie schnell wir dann aus den „Park-Anlagen“ nach Hause flitzen konnten.
Denn solange es Wetter und Uhrzeit zuließen, machten wir auf dem Nachhauseweg gern noch einen „Abstecher“ in die Anlagen. Dort gab es wilde Hasen, zwitschernde Vögel, Würmer und Käfer, Gräser, Blumen, Kräuter, Bäume und Äste, Kuhlen und kleinere „Höhlen“, kleine oder größere Büsche zum Budenbauen, freie Flächen zum Ballspielen oder „Fangen“, Verstecken und auch einfach mal zum Rumdösen.
Aber wir waren – glaube ich zumindest – ganz oft „pünktlich beim Dunkelsein“ zu Hause. Auch ohne Uhr am Handgelenk oder um den Hals.
Wir hatten tolle Nachbarn und ganz tolle Nachbarstiere. Unter anderem war ein Bernhardiner dabei, auf den ich manchmal „klettern“ und dann einige Minuten auf ihm „reiten“ durfte. Was auch immer in meinen Genen mit drin ist, irgendein Tier muss auch meine Mutti in ihrem Leben wirklich geliebt haben. Mein Vati liebt Tiere immer noch. Ich liebe Tiere, solange ich denken kann.
Schon als Sechsjährige durfte ich mit ins Ferienlager, weil meine Mutti als Helferin mitfuhr und meine etwas ältere Schwester ja schon als Schulkind die Sommerferienlager erlebte. Auch das war immer schön, denn das Betriebsferienlager war in einem Harzdorf.
Als „Städter“ hatten wir mit der ländlichen Ruhe und Schönheit durchaus unsre Freude.
Auch als ich selbst in der Schule war, fuhren wir immer im Sommer und manchmal auch im Winter – dann aber nur für eine Woche – dorthin.
Meine ältere Schwester und ich vermissten unseren Vati oft. Ich jedenfalls sehr. Soweit ich mich erinnern kann, war er, als ich etwa fünf Jahre war, „plötzlich“ nicht mehr da. Mittlerweile weiß ich einiges mehr, aber anderes blieb mir verborgen.
Ich akzeptiere es, dass es (er war ein DDR-Regimekritiker!?) möglicherweise mehr als Überwindung „kostet“, an solchen Dingen zu „rütteln“ und die Erinnerungen derjenigen wieder aufleben zu lassen.
Der Kontakt blieb erhalten, obwohl unsere Mutti es nicht gut hieß. Auch dass wir Mädchen unseren Papa auch besuchen wollten dand sie nicht gut, aber sie ließ es hin und wieder zu.
Jedenfalls hatte ich einige unbeschwerte, fröhliche Kinderjahre. Es gab eine liebe Omi und ein liebes Großelternpaar, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen… viele davon in der Nähe oder gar im selben Ort.
Die Einschulung war auch schön, es gab eine „Zuckertüte“ mit viel Schul- und Spielsachen drin und einigen Süßigkeiten.
Wir hatten übrigens keinerlei „Westverwandschaft“ oder „Westkontakte“, so dass ich mich an Bambina und diverse Schlagersüßtafeln gut erinnern kann. 😀
Neid oder Mobbing kannte ich jedenfalls in DER Zeit nicht, keine „Häme“ oder „Boshaftigkeiten“. Für mich war es wirklich ein Schock, als unsere Mutti mit der Nachricht zu uns kam, dass wir bald „… in den schönen kleinen Ort ziehen werden, wo wir unsere Ferienlagerzeiten so gern verbringen“.
Heute sagen meine ältere Schwester und ich „wir wurden in den Harz gezogen“.
Der neue Mann an Mutti´s Seite war okay, für mich damals – wenn ich heut so überlege – nicht wichtig. Er war halt da…
Das änderte sich jedoch mit der Umzugs-Nachricht schlagartig. Denn ER stammte ja aus dem Ort, DORT hatte sie IHN ja kennengelernt!
Meine Freundinnen und Freunde, meine geliebten Nachbarstiere, Omi und Großeltern, meine geliebte Tante und mein geliebter Onkel… Schule und Klassenkameraden…. WAS sollte ich plötzlich in diesem DORF?
Als Urlaubsort war das ja okay, aber GANZ dort wohnen – das war unfassbar.
Ich ging in die 3. Klasse, war eine ganz gute Schülerin, hatte keine Schwierigkeiten mit den anderen, nicht mit Lehrern, war dort glücklich. Es war undenkbar für mich, das sich dies nun alles ändern sollte.
Das Jahr und der Sommer kam, die Verabschiedungen waren furchtbar. Alle versprachen wir uns, dass wir uns besuchen würden, uns schreiben und niemals vergessen… Heute lächle ich drüber, aber es war damals ganz schlimm für mich.
Die Ferienzeit, das Ferienlager, „da oben den Berg rauf, da wohnen wir in zwei Wochen!“
Die jüngere Schwester kündigte sich im wachsenden Bauch unserer Mutti an, so dass meine ältere Schwester und ich schon in den paar Lagertagen „den Berg hoch stiegen“ um beim Auspacken und so weiter mit zu helfen.
Nicht ganz freiwillig „opfterten“ wir von den letzten Tagen mit unseren Schul- und Ferienlagerfreunden diese Stunden, aber wir waren wohlerzogen.
Dann war es soweit und wir stiegen NICHT mit in den Bus, um zum Bahnhof der nächsten Stadt … und von dort weiter wieder „nach Hause“ zu fahren.
Unser Zuhause war nun hier, da oben, in dem Neubaublock.
So wurde es entschieden und basta.
Einige Gesichter der Nachbarn kannten wir schon, auch unsere Mutti hatte inzwischen durch ihren Freund schon einige Bekanntschaften machen können.
Meine erste Begegnung mit einem Gleichaltrigen verlief sehr einschüchternd: „Ey, bist du die aus L. ? Die Sääkksin? Guck bloss nicht so doof.“
Doof gucken? Wie jetzt, ich wollte eigentlich HALLO sagen und … wurde gleich angepöbelt. Der Klang dieser Stimme war für mich gruselig, laut, herrisch.
Die letzten Ferientage in diesem Jahr hatte ich Angst.
Angst vor dem Neuen, was ständig und immer auf mich einprasselte. Angst vor den Blicken, vor dem Mann, vor der Schule und vor manch anderem.
Der erste Schultag in der neuen Schule und der neuen, vierten Klasse, war beispielgebend für die nächsten Schuljahre dort.
„Das hier ist eure neue Mitschülerin. Sie kommt aus L. und hat schon oft hier Ferien gemacht. T., du kennst sie ja schon von eurem Wohnblock, ihr anderen werdet sie sicher auch bald mögen. … Setz dich am besten … dahin…“
Was nicht gesagt wurde, aber dafür gezeigt, sprach mehr als geäußerte Worte.
Grinsende Kinder. Kichernde Mädchen und mundwinkelverziehende Jungsgesichter.
Ich setzte mich auf den Platz der mir „zugewiesen“ wurde und versuchte mich unsichtbar zu machen.
Doch das klappte nicht, da die Lehrerin mich fragte, wie denn die Schule so war, aus der ich hierher gekommen sei. Ich weiß nicht mehr genau was ich geantwortet habe, aber es führte bei einigen zu krampfartig-prustenden Lachanfällen.
Ich wurde NICHT gemocht.
Ich lernte MOBBING kennen.
Ich verstand nicht, was Kindern daran gefällt, anderen Kindern oder Lebewesen weh zu tun.
Ich weigerte mich, im Biologieunterricht einen toten Frosch aufzuschneiden. Weil jeder einen toten Frosch dafür auf den Platz gelegt bekam. Jeder einzelne Schüler.
Es waren insgesamt 32 tote Frösche. Nur um die Anatomie eines Frosches zu erklären und zu sehen, mussten dafür schon allein in dieser Unterrichtsstunde dieser einen Schulklasse 32 Frösche sterben.
Verständlich – das in einem Dorf wo viele „ihre“ Tiere nur dafür hatten, um sie zu schlachten – jemand schief angesehn wird, der um einen toten Frosch für „Versuchszwecke“ weint.
Aber es wurde immer schlimmer.
Das Nicht-Akzeptieren des „Anders-Seins“ musste ich leidvoll ertragen und damit leben lernen.
Es war im wahrsten Sinne des Wortes die „Schule fürs Leben“.