Der Tag X – es hört nie auf zu schmerzen

Die letzten Schuljahre waren eher durchwachsen.
Es war eine überaus peinliche Sache, als mich in einer Geschichtsstunde unsere Klassenlehrerin rauszitierte und mir sagte, dass ich schnell nach Hause laufen und mein „Schwimmzeug“ holen solle. Ich würde mit den Kleinen zum Schwimmunterricht fahren, damit ich endlich wenigstens die notwendige „Schwimmstufe“ ablegen könne, um zur Sport-Abschlussprüfung zugelassen zu werden…
Ich dachte erst, ich höre wohl nicht richtig…
Von der Schule am einen Ende des etwa drei Kilometer langen Ortes auf einem Berg musste ich eben diese drei Kilometer rennen, um zum anderen Ende und dem anderen „Berg“ zu kommen, wo der Wohnblock stand, in dem wir wohnten…
Völlig außer Puste kam ich nach Dauerlaufen hoch und runter und wieder hoch… an der Bushaltestelle an, wo der Bus schon !!! auf mich wartete.

In der Schwimmhalle angekommen, mit den Kleinen zum Umziehen, Duschen und dann… ab ins Wasser. Was ich ja grundsätzlich, trotz aller negativen Erfahrungen… mochte. Aber eben möglichst ohne Wellengang.
Drittklässler kannten jedoch schon damals nicht die Bedeutung von „Rücksicht nehmen“…
Ich will nicht weiter ausschweifen… mit Hängen und vier zugeniffenen Augen des Schwimmlehrers und meiner Klassenlehrerin, unter hässlichem, hämischem Lachen und platschenden Stößen der „Kleinen“ und mit schmerzenden Ohren… bestand ich diese… sorry… dämliche Schwimmstufe.

In der zweiten Hälfte meines 10. Schuljahres kam der „Tag X“ .
Er war wieder mal betrunken nach Hause gekommen und suchte ein „Ventil“.
Die ältere Schwester und ich hatten seine blabbernden, aggressiven Rufe gehört und blieben still in unserem Zimmer. Wir hörten, wie er gegenüber unseres Zimmers in der Küche mit Geschirr herumklapperte, oft gegen irgendwas prallte, es klang als ob ein Stuhl umfiel… wir blieben still und ängstlich…
Dann kam unsere Mutti von der Arbeit, kaum in der Wohnung sah sie in der Küche das Chaos… und begann zu schimpfen wegen der von ihm angerichteten Unordnung.
Dabei merkte sie zu spät, dass er besoffen war.
Es knallte etwas und sie schrie.
Wir befürchteten dass er sie irgendwie „haute“ und öffneten unsere Zimmertür, sahen, wie er sie, mit einem Unterarm an ihrer Kehle, an die Wand drückte und in der anderen, erhobenen Hand den Fleischklopfer schlagbereit hielt.
Wir sprangen dazu und im selben Moment, als ich ihn ohne Nachzudenken wegzog und damit am Zuschlagen hinderte, zog die ältere Schwester unsere Mutti von der Wand weg. So traf sein Schlag die Wand und nicht ihren Kopf. Wir drei Frauen haben uns sofort in den Wohnungsflur „verzogen“ und ihn, der offensichtlich seine „Balance“ nicht unter Kontrolle hatte, einfach umfallen lassen.
Als ich den ersten Schreck überwunden hatte, hörte ich ein leises Wimmern und sah unsere kleine Schwester, SEINE Tochter die er über alles stellte und liebte, im Flur stehen und mit schreckgeweiteten Augen wimmern und zittern.
Ich hockte mich vor sie, nahm sie in die Arme und versuchte sie irgendwie zu beruhigen. Wir flüchteten am selben Abend mit Bus/Bahn zu Verwandten..
Während der ganzen Fahrerei wimmerte die Jüngste und es war für uns ersichtlich, dass sie einen Schock erlitten hatte.

Wir blieben einige Tage bei den Verwandten, unsere Mutti hatte offensichtlich in der Schule, im Kindergarten und auf ihrer Arbeitsstelle angerufen… und das irgendwie geklärt. Auf der Rückfahrt wurde uns wieder bewusst, was uns nun… wahrscheinlich… bevorstehen würde.

Sie stellte sich das erste Mal – zumindest in meiner Erinnerung – vor uns und sagte ihm dass sie sich trennen würde. Sein hämisches Grinsen sehe ich noch heute – immer wieder – vor mir.
Sie versuchte, eine separate Wohnung für uns vier Mädels zu bekommen, was aber aufgrund seiner Tätigkeit als SED-Parteifunktionär über zwei Jahre schleppend, trotz Gerichtsanhörung, dauerte.
Er traute sich aber nicht mehr, einen von uns irgendwie Gewalt anzutun… zumindest nicht körperlich.

Ich war schon im zweiten Lehrjahr, als er dann eine kleinere Wohnung im Nebeneingang desselben Neubaublocks bezog.

Noch heute habe ich manchmal Alp-Erinnerungen, oft empfinde ich bei manchen „Machtmenschen“ in ihrem „Lächeln“ dasselbe fiese, grausame Grinsen,
jede erhobenen Hand, jeder erhobene Arm oder jedes gehobene Bein… lässt mich sofort starr stehen, handlungsunfähig, wie in einer Trance… und ich fühle sofort die Schmerzen…